Lidl: Popup-Sterne Restaurant DILL

Es war das prämierte Lidl-Tarnkappen-Projekt eines Popup-Sterne-Restaurants in Stockholm, das das Interesse unseres Gastautors Gregor Ade an der schwedischen Agentur Ingo geweckt hat. Ade – Managing Partner der Branding-Agentur Peter Schmidt Group, Eurobest-Juror und selbst gelernter Designer – hat mit den Machern der Kampagne in der Stockholmer Agentur gesprochen, die für ihre Lidl-Arbeit beim Eurobest mit dem Design-Grand-Prix ausgezeichnet wurden.

Wie die Werber aus Schweden ihren Kunden Agentur-Ideen präsentieren, davon können auch hierzulande bestimmt viele Berater und Kreative noch etwas lernen.

 
Seit einigen Wochen versucht Lidl in Deutschland den radikalen Imagewechsel: weg vom Billig-Discounter, hin zum Qualitätsanbieter. In unserer Branche und auch in der W&V wurde diskutiert, ob dieser Schritt gelingen kann. Sieht der Kampagnen-Look nicht ein bisschen zu sehr nach Edeka aus? Reichen Closeup-Stockfotos von wasserbenetztem Gemüse aus, um Kunden zu überzeugen? Vor diesem aktuellen Hintergrund gewinnt mein Besuch bei Ingo in Stockholm zusätzliche Spannung: Die Agentur hat für Lidl in Schweden nämlich ebenfalls Qualität in Szene gesetzt – allerdings nicht als klassische Kampagne, sondern in Form des Popup-Restaurants Dill.
Drei Wochen lang begeisterte in diesem der Sternekoch Michael Wignall Publikum und Kritiker. Anschließend wurde das Geheimnis gelüftet: Sämtliche Zutaten, vom Fleisch bis zur letzten Prise Salz, stammten von Lidl. Das Projekt überzeugte beim Eurobest Festival of Creativity nicht nur mit seiner Idee, sondern auch durch die liebevolle Gestaltung bis ins kleinste Detail.
Für W&V habe ich den deutschen Frühling gegen schwedischen Schneefall eingetauscht und das Team hinter dem Grand-Prix-Gewinner in Stockholm besucht. Björn Stahl (Executive Creative Director), Josefine Richards (Copywriter) und Rikard Holst (Art Director) verrieten mir, wie sie Lidl von ihrer ungewöhnlichen Idee überzeugten – und warum die Show eben erst dann beginnt, wenn der Koch auch wirklich hinter dem Herd steht.

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v.l.: Björn Stahl, Josefine Richards, W&V-Gastautor Gregor Ade, Rikard Holst (Abb. PSG).


In Deutschland ist vor ein paar Wochen eine Kampagne gestartet, in der Lidl die Qualität seiner Produkte in den Mittelpunkt rückt. Mit Food-Fotografie und Infografiken, zum Beispiel über die Zutaten des verkauften Brots. Das Unternehmen will weg vom Image als „Billigladen“. War die Ausgangslage für euch in Schweden ähnlich?
Björn Stahl: Ja. Auch bei uns ging es um das Thema Qualität. Lidl hat hierzu bei uns eine Kampagne angefragt und erwartete eigentlich einen TV-Spot und einen klassischen Kampagnen-Rollout.
Nimmt man Lidl in Schweden Qualität nicht ab?
Stahl: Alle Lebensmittel-Discounter, die versucht haben, im schwedischen Markt Fuß zu fassen, haben riesige Probleme – das ging Lidl so, aber auch Netto. In anderen Bereichen – wie zum Beispiel bei Baumärkten – funktionieren günstige Angebote, aber bei billigen Lebensmitteln werden wir Schweden misstrauisch: Wir sind davon überzeugt, dass Qualität ihren Preis haben muss. Auch das Thema Regionalität ist wichtig: Schweden wollen am liebsten schwedische Produkte.
Und ihr selbst? Habt ihr Lidl das Qualitätsversprechen abgenommen?
Rikard Holst: Wir haben die Produkte probiert. Und waren ehrlich gesagt selbst überrascht.
Genau dieser Punkt scheint mir entscheidend: der „proof of concept“ durch eigenes Ausprobieren. Ich zeige Björn die aktuelle Kampagne „Lidl lohnt sich“ voll feiner Werbeoptik und Qualitätsversprechen. Wir sind uns einig: Die Ästhetik mag funktionieren, sie bleibt jedoch das Wichtigste schuldig: den Beweis, dass all diese Behauptungen tatsächlich stimmen.
Holst: Uns war schnell klar, dass wir keine normale Kampagne machen können: Niemand würde Lidl das Thema Qualität tatsächlich abnehmen. Wir wollten etwas, das im echten Leben stattfindet, das überprüfbar ist. Quasi eine „Echtheitsgarantie“ mitliefern.
Wie kamt ihr dann auf die Idee eines Popup-Restaurants?
Holst: Das war gar nicht die erste Idee. Wir dachten nur: Man muss die Produkte essen und im Nachhinein erfahren, dass sie von Lidl stammen. So ließe sich ein echter Überraschungs-Moment erzielen. Erst planten wir daher, einen Deli-Shop vor einen normalen Lidl-Markt zu bauen. Etwa so: Man bummelt durch Stockholm, stößt auf einen kleinen Laden, der wunderbare Feinkost in seinem Schaufenster liegen hat. Man geht rein, bestellt – und dann geht ein Mitarbeiter nach hinten in den LIDL, befreit die Produkte von ihrer Verpackung und drückt sie dem Kunden in die Hand. Unser Problem: Wir haben einfach keine geeignete Ladenfläche gefunden. Im nächsten Schritt ist aus dieser Idee dann ein Popup-Restaurant entstanden, in dem mit höchstem kulinarischem Anspruch gekocht wird. Und zwar ausschließlich mit Produkten von Lidl. Wohlgemerkt: Lidl selbst wartete zu diesem Zeitpunkt immer noch auf seine klassische Kampagne.
Wie hat euer Kunde reagiert, als ihr ihm eure Idee präsentiert habt?
Stahl: Ich denke, das Entscheidende war zunächst nicht, dass wir die Idee vorgestellt haben, sondern wie wir es gemacht haben …
Nämlich?
Stahl: Wir wussten: Unser Kunde erwartet etwas komplett anderes – aber wir waren zu 100 Prozent von unserer Idee überzeugt. Wir dachten uns, dass das beste Argument sein würde, wenn unser Kunde genau die Erfahrung macht, die später auch die Restaurantbesucher machen würden! Also haben wir die Verantwortlichen von Lidl rund um Marketingchefin Caroline Forsshell zum Essen eingeladen und ihnen gesagt, dass wir dabei in lockerem Rahmen über ein paar Ideen sprechen wollen. Wir waren in einem der besten Restaurants Stockholms. Bei einem Starkoch, den wir eingeweiht hatten und der ein phantastisches Menü kochte, das der Kunde ausgiebig lobte. Als wir dann von unserer Idee des Popup-Restaurants erzählten, waren die Verantwortlichen skeptisch und fragten, ob das wirklich möglich wäre. Das war der Moment, in dem wir den Koch zu uns riefen. Der bestätigte: „Klar, das geht. Sie haben heute Abend nämlich ausschließlich Produkte von Lidl gegessen.“ Der Kunde war begeistert.
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Björn erzählt mir, dass dieses Gespräch nicht nur dem Kunden, sondern auch der Agentur selbst die Augen geöffnet hat. Sie versuchen heute öfter, komplexen oder ungewöhnlichen Konzepten bei ihrer Präsentation einen emotionalen Moment zu geben. So verkaufen sich Ideen weit besser, als durch rational hergeleitete Überzeugungsarbeit.

 
Ich kann mir vorstellen, dass damit die Herausforderungen erst richtig begannen: Eine Kampagne wäre euer Alltagsgeschäft gewesen – aber bei einem Restaurant kommen so viele Punkte hinzu, die eine Agentur gar nicht abbilden kann: Wie findet man einen Koch, wie stellt man ein Serviceteam zusammen, das perfekt funktioniert? Und wie hält man all das geheim?
Josefine Richards: Zunächst haben wir einen Standort gesucht – und ein altes Gebäude in Stockholm gefunden. Perfekt für unsere Idee, aber leider ohne Strom, ohne Wasseranschluss, ohne Toiletten. Eine riesige logistische Herausforderung, für die wir uns die Unterstützung von externen Designern geholt haben. Auch Architekten, Küchenplaner und Handwerker waren involviert. Auf Kundenseite gab es nur drei Personen, die in die Planungen eingeweiht wurden. Alle wussten, dass sie an einem großen Geheimnis arbeiten. Aber es war ihr eigenes Geheimnis, ihr Projekt. Jedem war bewusst: Wenn es rauskommt, war die ganze Arbeit umsonst. Parallel dazu haben wir uns auf die Suche nach einem Starkoch begeben, der Lust auf das Projekt hat. Hier stand für uns gleich zu Beginn fest, dass wir in Schweden nicht würden suchen können: Unsere Köcheszene ist eingeschworen, jeder kennt jeden. Zu riskant für ein geheimes Projekt. Also haben wir uns auf die Szene in England fokussiert.
Ihr seid zum Testessen nach Großbritannien geflogen?
Richards: Ja, tatsächlich – wir haben zwei Tage lang unsere Kandidaten besucht. Und wir werden das nicht vergessen: Mehrmals am Tag opulente Menüs essen, teilweise bis zu 16 Gänge und irgendwann ohne jeglichen Hunger. Das war schon verrückt. Am Ende haben wir uns für Michael Wignall entschieden – denn der hatte nicht nur zwei Michelin-Sterne, sondern fand die ganze Aktion spannend.
Euer Restaurant hieß Dill – ein Anagramm von Lidl. In der Innenausstattung wurden teilweise Paletten verbaut, die auch bei Lidl in den Gängen stehen. Ihr habt das Risiko des Entdecktwerdens schon ziemlich ausgereizt …
Stahl: Das stimmt. Aber wir finden, dass das Projekt dadurch noch zusätzlichen Charme gewonnen hat. Als das Geheimnis gelüftet wurde, haben wir die Buchstaben DILL, die über dem Küchenblock hingen, vertauscht – und plötzlich stand dort LIDL. Lesbar für alle. Und jeder dachte sich: „Verdammt, jetzt wo ich es weiß, fallen mir die ganzen Details, die versteckten Hinweise, auf. Warum habe ich all das nicht bemerkt?“ Dill war auf vielen Ebenen ein Spiel mit der eigenen Wahrnehmung.
Gab es einen Notfallplan, falls das Geheimnis doch rauskommt?
Stahl: Ja, den hatten wir zusammen mit der PR-Abteilung von Lidl erarbeitet.
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Stattdessen habt ihr aber planmäßig eröffnet. Ihr wart sofort „Talk of the town“ – wie plant man das?
Richards: Wir haben die Presse eingeladen, ausgewählte Szenegrößen, Restaurantkritiker, Blogger, Multiplikatoren. Einen Teil der Plätze haben wir über eine Online-Reservierungsseite vergeben. Diese ging mittags um 12 Uhr live – und um 12:20 Uhr gab es keine Plätze mehr. Von da an wollte jeder zu Dill, fünfhundert Gäste standen Tag für Tag auf der Warteliste. Außerdem war einfach alles gut, zuallererst natürlich das Essen: Nach drei Wochen war Dill in der Liste der 100 besten Restaurants in Schweden vertreten.
Nach drei Wochen habt ihr dann aber auch öffentlich gemacht, dass Dill ein Projekt von Lidl ist. Wie fielen die Reaktionen aus?
Richards: Ganz ehrlich: vernichtend. Es war genau das, wovor sich unser Kunde gefürchtet hatte. Wir haben das Geheimnis über einen Journalistenkontakt zu Stockholms größter Tageszeitung gelüftet – und Lidl ist eine Welle der Empörung entgegengeschlagen: Alles sei ein großer Fake! Einmal mehr war Dill das heißeste Gesprächsthema der Stadt, in jeder Zeitung, in jedem Blog. Das „normale“ Publikum hat dann aber schnell Partei für Lidl ergriffen, über die sozialen Netzwerke wurde die Meinung innerhalb von wenigen Tagen gedreht und Lidl erhielt den Applaus der Öffentlichkeit: Die Produkte hatten schließlich ihre Qualität bewiesen – nur die Kritiker und das Establishment hatten sich blamiert.
Also hat sich das Ganze auch für Lidl gelohnt?
Stahl: Definitiv. Wie gesagt: Ob in Zeitungen, im Fernsehen oder in den sozialen Netzwerken – die Meldung, dass Lidl-Produkte das Zeug zur Gourmet-Küche haben, war überall präsent, hat jeden erreicht. Und während sich die Konkurrenz wieder aus Schweden zurückgezogen hatte, machte Lidl 2014 erstmals Gewinn. Dill ist für uns inzwischen die Geschichte über einen mutigen Kunden, Risikobereitschaft, ein bisschen Wahnsinn und viel konzeptionelles und gestalterisches Herzblut.
Will jetzt nicht jeder Kunde von euch „so etwas wie Dill“?
Stahl: Klar. Dill ist ein Erfolg, an dem wir uns jetzt messen lassen müssen. Das Schöne ist aber, dass sich auch für unsere Agentur und unsere Haltung viel verändert hat. Wir haben mit Dill bei allen großen Wettbewerben gewonnen. Und das Projekt ist für uns ein Kreativtreiber geworden: Wir überlegen jetzt viel entschiedener als zuvor, wie wir eine gute Idee noch besser machen können. Außerdem bekommen wir jetzt mehr Bewerbungen von vielen tollen Leuten.
Gibt es irgendetwas, auf das ihr bei Dill besonders stolz seid?
Holst: Vielleicht darauf, dass wir trotz der Projekthektik die kleinen Details nicht vergessen haben. Normalerweise braucht man sechs Monate, um ein Restaurant zu eröffnen – wir haben das in wenigen Wochen geschafft. Und trotzdem sah jede Menükarte und jeder Flyer einfach gut aus. Das war auch der Grund, warum wir Dill beim Eurobest-Festival in der Design-Kategorie eingereicht haben. Auch die Stühle haben wir individuell gestalten lassen – von Woytek Weidne and Caroline Axell. Heute wird der „Popup Chair“ in Stockholmer Designerläden verkauft.
Und Hand aufs Herz: Ein Moment, in dem ihr dachtet, dass alles scheitern könnte?
Stahl: Stell dir vor, du hast den Kunden überzeugt, das Restaurant eingerichtet, die Einladungen verschickt – und eine Woche vor der Eröffnung bricht sich der Starkoch, den du ausgewählt hast, ein Bein. Das klingt wie der Cliffhanger in einem schlechten Film, war aber wirklich so. Und für uns alle die Hölle! Michael Wignall ist dann auf Krücken ins Restaurant gekommen und hat sein Team dirigiert. Und alles hat geklappt, es gab neun Gänge für 49 Euro. Denn günstig ist es bei Lidl schließlich auch.


 
Quelle: W&V
Bilder: Ingo Stockholm

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