Big Window: Wo der Wirt die Gäste beschimpft

Gegessen wird, was der Chef empfiehlt: Das armenische Restaurant „Big Window“ ist eine West-Berliner Institution. Seit 1967 erzieht Ivan Arzou hier seine Gäste aus Kunst und Kultur.
Wer verstehen will, wie aus Ivan Arzou, dem armenischen Jungen aus der alten persischen Königsstadt Isfahan, eine Berliner Gastronomielegende werden konnte, darf direkt aus dem Taxi in sein Lokal stolpern – Küche, Gästezusammensetzung, Interieur und sein Maître sind beispiellos. Und doch lohnt es sich, einen Moment auf dem Bürgersteig der Joachim-Friedrich-Straße unweit des westlichen Ku’damm-Endes innezuhalten. „Big Window“ steht auf der Markise sowie die Telefonnummer des Etablissements, das sich durch keine Speisekarte als Restaurant zu erkennen gibt.
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Es muss als Statement gewertet werden, dass man unmöglich durch das namensgebende Fenster unter der Markise gucken kann. So klandestin ist der erste Eindruck, dass eine Kollegin, die 300 Meter entfernt aufwuchs, täglich auf ihrem Schulweg an der Fassade vorbeiging und sich bis zum Abitur fragte, ob es sich wohl eher um ein Luxusbordell, ein Mafialokal oder einen Geheimdiensttreff handelt. Als sie sich das erste Mal hineintraute, konnte sie Ersteres ausschließen. Für ihre anderen Vermutungen sammelt sie seitdem fleißig Indizien – allen voran John Le Carrés Eintrag im Gästebuch: „Ivan, now there will never be a reason to go into the cold again“.

Ein Kellner, viele Prominente und keine Kinder

Einmal drinnen, fühlt man sich sofort wie im Orient-Express, statt Hercule Poirot empfängt Borik die Gäste, Ivans formvollendeter Oberkellner (nicht, dass es außer ihm noch einen anderen Kellner gäbe). Der Chef sitzt hinten an der kleinen Bar, runde Hornbrille, Hosenträger, Krawatte und Budapester sind seine Uniform. Und mit ihm gehen für neue Gäste die Rätsel – oder sagen wir lieber die Probleme – erst los. Immer ist er es, der an den Tisch kommt, um die Bestellungen entgegenzunehmen.
Und fast immer haben diejenigen so gut wie verloren, die nach einer Speisekarte verlangen. Es gibt nur eine einzige Vorspeise und fünf Hauptgerichte, eine ebenso überschaubare wie erfolgserprobte Auswahl, für die Ivan Arzou nach fast fünf Jahrzehnten im Geschäft nur unter Protest Menüs verteilt. 1967 hat er sein armenisches Restaurant eröffnet, sechs Abende die Woche ist er hier. Er war es schon, als Benno Ohnesorg keinen Kilometer entfernt erschossen wurde, und auch drei Tage zuvor, als der Geheimdienst des Schah das gesamte Restaurant gemietet hatte.
Ivan hat alles gesehen – vor allem prominente Menschen kommen und gehen. Gegessen wird nach seinen Regeln, am besten das, was er empfiehlt. Wer sich beschwert oder sonst wie unbeliebt macht, den wirft er raus. Einen Tisch für sechs Personen zu reservieren und dann nur zu viert zu kommen – keine gute Idee. Kleine Kinder mitzubringen ebenso wenig. „Wenn es anfängt zu schreien“, sagt Ivan Arzou dann, „müssen Sie gehen.“ Kurz: König ist hier nicht der Gast, König ist der Wirt. Wer sich damit abfindet, kann, wie in jeder aufgeklärten Monarchie, eine wunderbare Zeit verleben.

Ein Gruß aus der Küche und von überall her

Die fängt bei Ivan zuverlässig mit dem Gruß aus der Küche an – einem halben Miniaturfladenbrot, mit würzigem Hackfleisch und einem Spalt Zwiebel gefüllt; ein minimalistischer Auftakt, dessen Zauber sich kein Fleischesser entziehen kann. Wenn man klug genug war, sich Ivan Arzous Anweisung – „Nehmen Sie jetzt einen Salat; wenn Sie gleich einen wollen, bekommen Sie keinen mehr“ – nicht zu widersetzen, folgt ebendieser, mit hauchdünn geraspeltem Schafskäse. Dann die einzige Vorspeise, „Lule“, ein wunderbar gewürzter Hackfleischspieß, der mit Tomaten, Zwiebeln, Gurken und Thai-Basilikum serviert und in hauchdünnes Brot gewickelt mit den Fingern verzehrt wird.
Aber bitte „nicht zu viel, sonst können Sie kein Hauptgericht bestellen.“ Mit Gästen, die kein Hauptgericht bestellen, ist Ivan ähnlich unnachsichtig wie mit jungen Familien. Wer es bis hierhin geschafft hat, genießt Huhn, Kalb, Schwein, Rind, Leber oder Rippchen, alle nach seinen eigenen Rezepten mariniert, auf Holzkohle gegrillt und mit nichts als ein wenig Paprika und Fladenbrot serviert.
Das Geheimnis: die Marinaden, die weniger originär armenisch sind als vielmehr das Ergebnis eines armenischen Lebens in der Diaspora. Das Safran-Huhn ein Gruß aus Indien, die Lambchops eine Verneigung vor dem Armenischen Club in Teheran, die Spareribs bei den afroamerikanischen Nachbarn in Laguna Beach abgeschaut.
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Alle Wege führen nach Berlin

Ivan Arzou wird 1935 im persischen Isfahan geboren. Dass seine Familie schon im 17. Jahrhundert dorthin ausgewandert ist, lässt sie den türkischen Völkermord an den Armeniern überstehen. Die Kindheit verbringt Ivan in Teheran, bis die Eltern den Zwölfjährigen aufs Armenian College ins 3844 Kilometer entfernte Kalkutta schicken. Sieben Jahre lang wird er sie nicht wiedersehen – „die Reise war zu lang und zu teuer“, sieben Jahre, in denen er im Boarding House seiner Tante lebt, dessen Leitung er nach dem Tod des Onkels übernimmt.
1956 kehrt Arzou nach Teheran zurück und beginnt dort bei Philips zu arbeiten. Bald will er wieder weg aus der Stadt: „In Kalkutta ist man nur angesehen, wenn man ehrlich ist. In Teheran gilt man nur etwas, wenn man die anderen übers Ohr haut. Für mich war das nichts.“
1960 lockt ihn die armenische Community nach Südkalifornien –“meine halbe Verwandtschaft war schon da“. Aber auch dort fühlt er sich fremd. „Phony“ seien die Menschen gewesen, nett, oberflächlich, ein bisschen hohl. Nach einem Jahr zieht er nach Hamburg. Während eines Berlin-Ausflugs erkennt Ivan, „dass das meine Stadt ist“. Er findet dort seinen Traumjob, als Barmann im Casino des Flughafens Tempelhof, freundet sich mit englischen und amerikanischen Piloten und Stewardessen an, die ihn nach einigen Grillabenden in seiner Küche darin bestärken, einen eigenen Laden zu eröffnen.
Sie werden seine ersten Stammkunden, als er 1967 mit seiner deutschen Frau Chris und 20.000 vom Onkel geliehenen Mark das „Big Window“ eröffnet.

Von Roy Black bis Harald Juhnke

Der Laden lief von Beginn an, erzählt Ivan, aber abgehoben sei er erst, als er 1969 erstmals Spareribs anbot. Da seien die „Grunewaldis“ in Scharen gekommen, wie er die West-Berliner Schickeria immer noch nennt. Kein Berliner Fernsehstar dieser Zeit, der nicht bei ihm ein- und ausgegangen wäre – dazu Caterina Valente, Roy Black und Walter Giller, der russische Außenminister Iwanow und Ephraim Kishon. Über allen thronend „mein Freund“ Harald Juhnke, der wiederum seinen Freund Charles Aznavour mitgebracht habe, den wohl berühmtesten Armenier der Welt.
Die Unnachgiebigkeit, mit der Ivan Arzou seinen Kosmos verteidigt, sie muss in diesen Jahren entstanden sein. „Das ist das Problem mit Promi-Restaurants. Jeder kennt jeden, die tun so, als würde ihnen das Restaurant gehören. Die fangen an, von Tisch zu Tisch zu reden, so als wären sie im Fußballverein.“ Eines Abends habe seine Frau gesagt: „Wenn du nicht aufpasst, gehört der Laden nicht mehr dir. Und sie hatte recht.“ Ivan legt eine schwarze Liste an, auf der alle landen, die unangenehm auffallen, nur noch maximal zwei bis drei Tische pro Abend gehen nun an die Grunewaldis. Und der Laden, wie er ihn nennt, ist wieder seiner.

Wo Barbara Becker Udo Walz ihre Brüste zeigt

48 Jahre nach Eröffnung des „Big Window“ reflektiert der aktuelle Gäste-Mix, wie sich der Ku’damm verändert hat. Pan-Am-Piloten sind russischen Emigranten gewichen, die ZDF-Prominenz einer wiedererstarkten jüdischen Community, die bei Ivan als guilty pleasure schon mal Schwein bestellt. Dazwischen Medienmanager, deren Fahrer mit laufendem Motor vor dem Laden warten, Stargaleristinnen, die eine Auszeit von der Kunstszene machen, und Barbara Becker, die zur fortgeschrittenen Stunde ihrem Freund Udo Walz ihre Brüste zeigt, zum Beweis, dass der ganze Yoga-und-Pilates-Wahnsinn was bringt.
Ivan schaut in solchen Momenten nicht mehr hin und lässt sich von Maître Borik ein letztes Glas Wein einschenken. Die Zukunft des „Big Window“ ist dank seiner gesichert: Borik, der wie Ivan auf dem armenischen College in Kalkutta war, steht bereits mit im Mietvertrag.
„Eigentlich“, sagt Ivan der Schreckliche, „komme ich mit allen Menschen klar, die mit mir klarkommen.“ Mit Ausnahme vielleicht der Türken, fügt er hinzu. Als er Ende der 60er mit seiner Frau über die Türkei nach Teheran gefahren sei, da sei ihm in jeder Sekunde auf türkischem Boden kotzübel gewesen. „Doch auch bei den Türken ändert sich einiges“, sagt Ivan. „Fatih Akin ist zum Beispiel ein Held für mich. Dass der einen Film über den Völkermord an uns gemacht hat, ist wahnsinnig mutig. Wenn der morgen reinkäme, wäre er mein Ehrengast. Das kannst du ruhig schreiben, vielleicht liest er es ja.“
 
Quelle: Welt.de
Bilder: Wolfgang Stahr

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