Soylent: Wir haben das Essen der Zukunft getestet

Am zehnten Tag reicht es. Schon seit dem Vormittag habe ich es nicht mehr geschafft, auch nur einen einzigen Schluck Soylent aus dem Glas zu nehmen. Der nagende Hunger hat mich böse gemacht. Ich beende das Experiment und koche mir ein grosses Essen aus allem, was ich in der weitgehend leeren Küche finden kann: Kefen, Randen, Reis, Erdnüsse, ein wenig welker Feldsalat. Köstlich.
Zehn Tage lang habe ich nur gegessen, wenn mein Sozialleben es unbedingt erforderte. Die restliche Zeit über habe ich mich von Soylent ernährt. Dabei handelt es sich um ein beiges Pulver, von dem eine 450-Gramm-Tagesportion mit zwei Litern kaltem Wasser plus 60 Millilitern mitgeliefertem Raps- und Algenöl angerührt wird. Die pfannkuchenteigartige Flüssigkeit soll genügend Kalorien sowie alle nötigen Nährstoffe und Vitamine beinhalten.
Nein, bei dieser Diät geht es nicht ums Abnehmen. Vielmehr verzehre ich die braune Pampe als Vorgeschmack auf eine mögliche Zukunft. Eine Zukunft, in der alle satt werden und niemand mehr Zeit mit Essen verschwendet. Eine Zukunft, wie sie in etlichen Science-Fiction-Werken schon beschrieben wurde und an der nicht nur Hersteller von Astronauten-Nahrung arbeiten. Besonders in den USA, wo das Gesundheitsministerium in diesem Jahr erstmals Überlegungen zur Nachhaltigkeit in seine Ernährungsempfehlung einbezog, forscht man an Alternativen zum Essen, wie wir es kennen. Soylent, die Idee eines Geschäftsmannes, ist eine eher radikale Lösung.

Soylents CEO, der 26-jährige Elektroingenieur Robert Rhinehart, ernährt sich laut eigenen Angaben seit Jahren zu 90 Prozent mit seiner Erfindung und erfreut sich bester Gesundheit. Bei seiner in Los Angeles angesiedelten Firma Rosa Labs wollte man mir Soylent nicht zustellen (der Versand erfolgt derzeit ausschliesslich innerhalb der USA), also habe ich auf Ebay bestellt. Dank des ungünstigen Umrechnungskurses und des deutschen Zolls kostet die 14-Tage-Versorgung 350 Franken, knapp 25 Franken am Tag. Für den Preis eines Menüs in ­einem gehobenen Restaurant habe ich also Essen getrunken, das für Leute gedacht ist, die kein Essen mögen.

Täglich Stunden gewonnen

Eigentlich hat Rhinehart Soylent aus dem Bedürfnis heraus entwickelt, sich für vier Dollar pro Mahlzeit ernähren zu können und dabei die Zeit zu sparen, die sonst für das Einkaufen und Kochen draufgeht. «Was, wenn Sie sich nie wieder ums Essen sorgen müssen?», heisst es auf der Soylent-Website. Und tatsächlich hat so ein Tag mit Soylent gefühlt mehr Stunden. Nichts unterbricht die Arbeit. Meine Nahrung findet Platz in drei Behältnissen: für den morgendlichen Kaffee, für Wasser und für den Schlabber. Die Küche bleibt kalt, die Spülmaschine leer, bis auf ein paar Soylent-verkrustete Gläser. Nachdem das wattige Gefühl im Kopf vergangen ist und sich der Darm auf die flüssige Nahrung eingestellt hat, segle ich nahezu bedürfnislos, energiegeladen und ohne Ermüdungserscheinungen durch 17-Stunden-Tage. Kommt Hunger auf, trinke ich am Schreibtisch ein, zwei Gläser Pampe.
Wer satt ist, wird müde. Ich verspüre keinen Neid auf die Menschen, die gemeinsam zum Mittagessen gehen. Ein Schluck Espresso am Nachmittag fühlt sich in der Herzgegend an wie heftige Verliebtheit. Schokolade und Kuchen ­erscheinen auf einmal seltsam uninteressant. Meine neu gewonnene Zeit ist mir zu kostbar, um sie in Bars zu verschwenden. Ich habe die Verführungskraft von Soylent verstanden. Lediglich das schleimige Mundgefühl stört – als hätte ich zwei Liter Milch auf Ex getrunken.

«Vor Langeweile sterben»

Soylent passt in eine Zeit, in der ein Wachmachergetränk mit dem Spruch wirbt: «Wer schläft, kann die Welt nicht verändern.» Eine Welt, in der es Cola light gibt, E-Zigaretten und fettfreien Käse – ehemalige Genussmittel, von ­allem befreit, was sie mal interessant machte. Ob Soylent schädlich sein kann, weiss Andreas Pfeiffer, Ernährungsmediziner an der Berliner Charité. Er vergleicht es mit klinischen Abnehmpulvern, die als ebenso vollwertig angepriesen werden, aber eben kaum halb so viele Kalorien haben wie Soylent. Dessen drei Hauptbestandteile sind Maisstärke, Reisprotein und Hafermehl. Damit ist für Kohlehydrate, Ballaststoffe und pflanzliches Eiweiss gesorgt, das Rapsöl hat laut Pfeiffer ­sogar eine bessere Fettsäuren-Bilanz als Olivenöl. Auch am Rest der Formel, die Rhinehart nach den für ihm am schlüssigsten klingenden Studien anlegt, hat der Arzt nichts auszusetzen.
Mein Soylent-High hält Pfeiffer für Einbildung, meine Schokoladen-Unlust allein für das Ergebnis veränderten Verhaltens. Was das Schlimmste sei, was passieren könne? «Dass Ihnen irgendwann die Zähne ausfallen, weil Sie nicht mehr kauen. Und dass Sie vor Langeweile sterben.» Sein Fazit: «Ich sehe nicht, warum man sich nicht auch über eine lange Zeit davon ernähren könnte», sagt er. «Ich wüsste aber auch nicht, warum jemand das wollen sollte.»

Ideal für Apokalyptiker

Viele andere wissen sehr gut, warum sie sich von Soylent ernähren. Sie leben zum Beispiel im Silicon Valley, sind IT-Entwickler mit viel Arbeit und ohne Zeit. Für sie stellt es eine gesündere Nahrung dar als Fertigsuppen und Tiefkühlpizza. Fragt man sie, wie eine Reporterin des «New Yorker», nach den sozialen Konsequenzen von Soylent, blicken sie verständnislos und fragen: «Sie meinen die Blähungen?»
Durch die Pulverform ist Soylent lange haltbar, ideal für Menschen, die sich für die Apokalypse rüsten. Aber auch sie gehören zum Soylent-Kundenstamm: körperlich hart Arbeitende, die nicht in Ruhe essen können, ohne Verdiensteinbussen zu haben.
Rhinehart hat sich wiederholt verteidigt gegen den Vorwurf der Genussfeindlichkeit: Den Geschmack von Soylent habe er bewusst neutral konzipiert. Wasser habe auch keinen Geschmack und sei das beliebteste Getränk der Welt. Will man Soylent verstehen, muss man Bob Rhinehart verstehen. Er wuchs als Sohn von Christen mit kreationistischen Glaubensprinzipien auf. Für eine Schulaufgabe sollte er einst darlegen, dass die Erde erst seit 10’000 Jahren existiert. Doch er fand nur Beweise, die gegen alles sprachen, was er jemals gelernt hatte. Seither verlässt er sich nicht mehr auf Gefühle, sondern auf Studien. Er ist überzeugt: Nahrung ist eine Sache der reinen Vernunft. Rhinehart hasst kapitalistische Verschwendungssucht. «Wir werden keine Landwirtschaftsbetriebe mehr brauchen», lautet seine Vision. Er will bessere Mittel finden, um die Welt zu ernähren. Man kann sich gut vorstellen, dass Soylent von Drohnen über Gebieten mit Hungersnöten abgeworfen wird.

Soylent: Name steht für Soja und Linsen

Soylent hat seinen Namen nicht, wie man vermuten könnte, vom Science-Fiction-Film «Soylent Green» (1973). Der Name stammt, so Rhinehart, vom Vorbild des Films, dem Roman «Make Room! Make Room!» von 1966. Dort setzt sich Soylent zusammen aus den englischen Worten «soy» für Soja und «lentils» für Linsen.
Weil das real existierende Soylent in ästhetischer Hinsicht keine Freude ist, gehe ich am vierten Tag dazu über, das Pulver mit noch mehr Pulver zu versetzen: Zermahlene Hibiskusblüten und Minze färben die Matsche milchshakebunt und geben dem Ganzen einen vegetabilen Geschmack. Die Minzeversion schütte ich nach einem Glas in den Ausguss. Zu sehr Kaugummi.
Was wir als essbar empfinden und was als Tabu gilt, ist zu grossen Teilen durch unsere Kultur geprägt, aber auch durch ökonomisch-ökologische Umstände. Im Römischen Reich galten die Zungen von Nachtigallen als Delikatesse, in 100 Jahren wird man wohl den Kopf schütteln über unsere industriell organisierte Barbarei an Tieren. Unternehmen wie das südafrikanische Agriprotein betreiben Farmen, auf denen Insekten­larven gezüchtet werden, die anstelle von Fischmehl, Soja oder Getreide an Tiere verfüttert werden. Firmen wie ­Modern Meadow oder Beyond Meat züchten Fleisch ohne CO2 in der Petrischale. In den Niederlanden verkaufen Supermärkte mittlerweile Burgerfleisch aus Maden.
Am neunten Tag schaue ich bei einem heruntergekühlten Glas Hibiskus-Soylent schliesslich den südkoreanischen Film «Snowpiercer» von 2013 an. Er spielt in der Zukunft, der Planet ist unbewohnbar geworden. Nur eine kleine Gruppe von Menschen hat überlebt, die Armen leben in katastrophalen Zuständen. Zu essen verabreicht man ihnen schwarze, gallertartige Proteinblöcke. «Wie schmecken Steaks noch mal?», fragt einer. Keiner kann sich erinnern. Allmählich wird klar, dass Tomaten und Fleisch nicht ausgestorben, sondern nur den höheren Klassen zugänglich sind. Ähnlich, wie es heute mit dem Statussymbol Bio-Essen passiert. Der Film bebildert aufs Anschaulichste, was der bekannte deutsche Lebensmittelchemiker Udo Pollmer kürzlich beschrieb: «Wenn man den Menschen die Freude nimmt, kann man sie besser beherrschen.» Noch einfacher ist es, wenn sich Menschen die Freude selbst versagen. Ganz freiwillig.
 
Quelle: Tagesanzeiger
Bild: PD

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