Rotes Fleisch im Weissen Rössli

Wer für viele Arbeitgeber in den Ring steigt, der verbringt den Jahresbeginn mit kulinarischem Abarbeiten mannigfaltiger Weihnachtsessen. Das kann sehr schön sein.
Einer meiner Arbeitgeber hat Geschmack. Zumindest was die Restaurantwahl des letztjährigen Weihnachtsessens anbelangt. Auf Kosten der Chefin hat sich das gesamte Team im Weissen Rössli getroffen. Das liegt im wunderbar unhippen Zürcher Kreis 2, nicht unweit des Sihlcity. Ganz im Gegensatz zur weiteren Nachbarschaft wird hier keine Massenabfertigung geliefert. Der aufmerksame Service hat mein Zuspätkommen mit prompter Nachbestellung schnell kompensiert. Ein Blick auf die Karte zeigt, die Küche ist saisonal, jeweils Mittags und Abends wird ein Menu angeboten.
Die Preise sind einigermassen im erwarteten Rahmen, wobei ich hier anmerken muss, dass diese Aussage von einem oft auswärts speisenden Zürcher stammt. Die Restschweiz dürfte sich doch ein klein wenig die Augen reiben. Das spricht nicht gegen das Weisse Rössli, sondern nur gegen den generellen Preiswucher, der über der Limmatstadt hängt wie eine bleierne Käseglocke. Glücklicherweise musste ich mich sowieso nicht um die Preise kümmern, Du erinnerst Dich, Weihnachtsessen, die Chefin zahlt.
Die Beratung durch das Servicepersonal war wunderbar unaufdringlich und kompetent. Die Weinkarte bietet ein breites Spektrum zu einem äusserst fairen Preis. Im Angebot sind viele Schweizer Weine, Italiener, Spanier, Franzosen und wenige Argentinier. Ich muss hier gestehen, dass ich nicht mehr weiss, welcher Wein uns letztlich kredenzt wurde. Ja, das darf man durchaus als gute allgemeine Stimmungslage deuten.
Da wir es nicht geschafft hatten, uns auf einen Rotwein zu einigen, liessen wir uns eine Empfehlung des Hauses servieren. Die Frauschaft unseres Teams hatte sich zuvor vehement gegen einen schweren Italiener gewehrt, von welchem die männlichen Mitarbeiter, ich inklusive, partout nicht abweichen wollten. Die Empfehlung hat es tatsächlich geschafft einen wunderbaren Kompromis zu finden, was in Sachen Gastronomie ja oft ein Widerspruch in sich ist.
Zur Vorspeise habe ich mir und dem Portemonnaie meiner Arbeitgeberin folgendes wohlklingendes Wortgeflecht gegönnt: Trüffel-Ricotta-Cappelletti mit gebratenen Perlhuhn-Bruststreifen, Nussbutter und Lauchbeet.
Rössli - Perlhuhn-Bruststreifen, Nussbutter und Lauchbeet
Eine durchaus solide Wahl. Im Vergleich zu dem Hirschcarpaccio an Hagebuttevinaigrette, Kürbiskernen und Rotkabissalat meiner Tischnachbarinnen jedoch die schlechtere Wahl. Die Pasta war gut, jedoch kein Ereignis. Das Hirschcarpacchio war das, was ich mir von jedem Restaurantbesuch erhoffe, ein Erlebnis. Ein kleines Abenteuer in meinem Mund. Es darf durchaus sein, dass mir ein vorgesetztes Essen nicht besonders schmeckt, nur langweilig soll fremde Küche nie sein. Im Falle des Weissen Rössli besteht da wenig Gefahr enttäuscht zu werden. Auch wenn meine Vorspeisenwahl für einmal nicht die optimale war.
Die Hauptspeise hat mich dann vollends mit meiner suboptimalen Ersteinschätzung versöhnt. Diese steht aktuell nicht mehr auf der Karte, der weisen Voraussicht eines Mitarbeiters war es jedoch zu verdanken, dass wir diese bereits vorbestellt hatten. Ein Rindsfilet im Wirsing-Mäntelchen mit roten Kartoffelchips, Blattspinat und Kartoffelstock.
Rössli - Rindsfilet im Wirsing-Mäntelchen mit roten Kartoffelchips, Blattspinat und Kartoffelstock
Genau so muss Kulinarik sein. So gut, dass alle am Tisch für einmal die Klappe halten. Oder andernfalls nur noch genüssliche Grunzlaute über die gustatorische Rindviecherei im Mund äussern. Dieses Rindsfilet hat mich einmal quer durch das Hedonisten-Nirwana und wieder zurück geschleudert. Gutes Essen ist die sinnlichste Erfahrung des menschlichen Kulturschaffens. Das ist Erlebnis und purer Augenblick. Das ist der temporäre Totschlag des präfrontalen Cortex und jeglichen Bewusstseins. Das ist Abtauchen in die wunderbaren anarchischen Tiefen des alten limbischen Systems. Triebhafte Völlerei. Dankeschön.
Die gesamte Post-Rindsfilet-Ära im Weissen Rössli ist diesen Umständen geschuldet nur noch arg verschwommen in meinem Erinnerungsvermögen festgehalten. Was definitiv nicht am Wein lag. Den schweren Rotwein haben mir meine Mitarbeiterinnen ja bekanntlich vermiest.
Was bruchstückhaft noch in meiner Erinnerung vorhanden ist, Sauerrahm-Glacé und Kaffee mit Grappa. Auch hervorragend. Jedoch habe ich die Spielwiese meiner Kritikfähigkeit nach dem Hauptgang definitiv verlassen. Als interessierter Gast habe ich Geschäftsführerin Mirca Reich gebeten, einen Blick in die Küche werfen zu dürfen. Küchenchef Mathieu Bacon hat sich die Zeit genommen meine debil-glückliche Wenigkeit durch die Küche zu führen, seine Philosophie zu erläutern. Diese hier auszuführen erachte ich als sinnlos. Was mich an dem jungen Koch vor allem überzeugte, das wusste ich bereits. In meinem Magen. Die grosse Lust und Leidenschaft an seiner Kunst, das war mir dann nur noch Erklärungsmodell für das, was ich hier erleben durfte. Und letztlich die Gewissheit schenkte, dass ein solcher kulinarischer Höhenflug im Weissen Rössli immer wieder möglich sein kann.
In Sachen Preis-Leistungsverhältnis gehört dieses Lokal für mich definitiv zu Zürichs besten Adressen. Weitere Informationen finden interessierte Leserinnen und Leser unter www.weisses-roessli.ch. Die entscheidenden Information finden sie aber vor Ort. Und definitiv nicht mit den Augen. Hingehen und ihrem Gaumen eine Chance bieten. Besser früher als später.
Das Restaurant Weisses Rössli wurde 2016 mit dem Best of Swiss Gastro Award in der Kategorie Classic ausgezeichnet.


Über den Autor:

Manuel GammaManuel Gamma ist Journalist, Selbstverteidigungstrainer und Lyriker. Die Sinnlichkeit spannender Kulinarik ist ihm die grösste aller Zärtlichkeiten. Wenn die vollendete Ästhetik seines gefüllten Tellers eine Aufmerksamkeit fordert, verliert er sich gerne im stummen Gaumennirwana des Genusses.
Seine Worte findet er nach seiner Rückkehr in reale Gefilde wieder hier…

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